Gespräch mit Dr. Tatjana Mehner (Leipzig) 2009 – veröffentlicht in englischer Sprache - Contemporary Music Review – Volume 30 Part 1, 2011, S. 81 bis S. 89:



CREATING SOUND BEHIND THE WALL:

ELECTROACOUSTIC MUSIC IN THE GDR


 

Interview mit Michael von Hintzenstern, 28. März 2009, Weimar, Wohnung Hintzensterns


Sie zählen zu einer Generation, die vollständig das DDR-Schulsystem durchlaufen hat, waren aber immer stark von der Kirche – und somit auch von systemkritischem Denken – geprägt.

Elektroakustische Musik gehörte nicht gerade zu den Lieblingskindern des Kunstsystems in der DDR. Gerade in ihrer Kindheit und Jugend dominierte der sozialistische Realismus ja alle zentral gelenkten musikalischen Bildungsbereiche – eingeschlossen einer massiven Kritik an allem Elektronischen, bei dem der Mensch, der ja im Mittelpunkt der Kunst zu stehen habe, zu kurz komme. Wie sind Sie dennoch mit dieser Musik in Berührung gekommen?

Die bestehende Lehrmeinung hat mich eigentlich nie interessiert, beziehungsweise die kannte ich damals gar nicht so genau. Da ich früh mit dem Komponieren begann, landete ich relativ bald – nämlich mit 12 Jahren – bei der Zwölftonmusik. Mich faszinierte die Musik der Zweiten Wiener Schule. Und wenn man da einmal angelangt ist, zeichnet sich der weitere Weg schon ab. Ich habe diesen klassischen Strang verfolgt: Schönberg, Webern und dann die Darmstädter Schule. Alle entsprechenden Informationen, soweit ich sie hier in der heutigen Herzogin Anna-Amalia Bibliothek ausleihen konnte, habe ich regelrecht verschlungen. Und hatte sogar eine langwierige Korrespondenz mit dem VEB Buchexport und -import in Leipzig. Damals ist es mir wirklich gelungen, das Lehrbuch „Die Komposition mit 12 Tönen“ von Josef Rufer aus der BRD einzuführen, nachdem ich Beschwerdebriefe geschrieben und derart genervt hatte, dass man meinem Wunsch nachgab. Irgendwann rief mein Musikalienhändler an und sagte, ein Wunder sei geschehen: das Buch von Rufer, das ich so gern haben wollte, sei da und sogar zwei Mal. Das zweite Exemplar habe ich dann meinem Geigenlehrer Baldur Böhme, der auch Komponist war, weiterverkauft.

Sie kommen also von der Geige?

Von der Geige und vom Klavier. Ich habe mit neun angefangen, Musik zu machen, also nicht ganz so früh. Dafür habe ich dann bald kleine Stückchen komponiert. Zum Teil auch skurriles Zeug, wie die “Sinfonie mit der Autohupe”. Mit meinem drei Jahre älteren Bruder Matthias, der Klavier und Violoncello spielte, habe ich dann das Notierte immer unmittelbar ausprobiert. Und dann haben wir sehr früh angefangen, gemeinsam zu improvisieren und gemerkt: Wir brauchen das gar nicht mehr alles aufzuschreiben! Das war praktisch die “Geburtsstunde” des “Ensembles für intuitive Musik”.

Bis die offiziell schlug, dauerte es dennoch einige Jahrzehnte. Wie verlief Ihre Beschäftigung weiter?

Ich war dann relativ schnell auch bei Stockhausen, Boulez, Nono, Pousseur – das waren plötzlich für mich ganz wichtige Namen. Ich habe sehr aufmerksam die Radiosendungen vom Norddeutschen Rundfunk und vom Hessischen Rundfunk verfolgt – das waren die Westsender, die man in Weimar am besten empfangen konnte. Da gab es damals zu zivilen Uhrzeiten – sogar manchmal 20 Uhr – schöne Sendungen mit Neuer Musik. Mit 14 habe ich so die „Telemusik“ von Stockhausen gehört, und das hat mich unglaublich fasziniert. In meiner unbefangenen Begeisterung habe ich versucht, mit Stockhausen Kontakt aufzunehmen. Ich hatte natürlich keine Adresse und habe an das Elektronische Studio des WDR in Köln  geschrieben. Die Briefe kamen natürlich nie an.

Dennoch konnten Sie bald den Kontakt zu Stockhausen herstellen ...

Mein Vater, der teilinvalidisiert war und in die BRD reisen durfte, hat im Herbst 1970 einen Brief von mir an Stockhausen in Westdeutschland eingeworfen. Und der hat sofort geantwortet. Das war nach der Uraufführung von „Mantra“ in Donaueschingen. Am 22. Oktober 1970. Am Geburtstag des Zukunftsmusikers Franz Liszt, einem weiteren wichtigen Musiker in meinem Leben. Seither ist die Korrespondenz bis zu Stockhausens Tod 2007 nie mehr abgerissen. Dieser erste Brief von Stockhausen, das war natürlich die Initialzündung. Er war in all den Jahren unheimlich großzügig. Er hat uns unglaublich unterstützt, mit Material ausgestattet, mit Schallplatten, Partituren, Büchern. Wahnsinn, was sich da im Laufe der Zeit so angesammelt hat. Daraufhin habe ich 1971 meinen ersten Einführungsabend in die Elektronische und Neue Musik gehalten – bei der Jungen Gemeinde in Weimar. Und da wurden dann die staatlichen Organe erstmalig auf mich aufmerksam.

Tatsächlich erstmalig? Es ist ja bei allem, was man inzwischen über die Arbeitsweise der Stasi weiß, sehr schwer vorstellbar, dass jemand Briefe schreibt – zum einen die genannten Beschwerden, zum anderen an den WDR –, ohne dabei beobachtet zu werden; sind Ihnen die Briefe tatsächlich in keiner Stasiakte wieder begegnet?

Nein, das sind sie nicht. Das mag aber vielleicht damit zusammenhängen, dass die Kreisdienststelle Weimar der Staatssicherheit sehr intensiv Aktenvernichtung betrieben hat, und meine Akte ist überhaupt nicht mehr vorhanden. Es gibt nur Karteikarten, die darauf hinweisen, dass eine Akte existiert hat. Es gibt dann nur Querverbindungen zu anderen Akten.

Ich habe vor einigen Jahren eine zweite Suchanfrage gestartet, da hat man dann einen Vorgang ausfindig gemacht, bei dem es um meine Westreisen ging. Ich war total erstaunt, dass die Stasi bereits 1984 gesagt hat, ich könnte unbedenklich auch in Zukunft in den Westen reisen. Dennoch habe ich bis 1989 intensiv um jede Reise gekämpft.

1984 war aber nicht Ihre erste Westreise ...

Nein, die erste konnte ich von Dezember 1976 bis März 1977 antreten, als ich bei einem Internationalen Kompositionswettbewerb im Künstlerhaus Boswil einen Studien- und Arbeitsaufenthalt gewonnen hatte. Paul-Heinz Dittrich hatte mich auf den Wettbewerb hingewiesen. Und ich habe als damaliger Kirchenmusikstudent ein Werk eingereicht: “Alea-Phonie” für variable Besetzung. Die Aussichten, die Reise antreten zu können, waren sehr gering. Mein Vater, der Chefredakteur der Kirchenzeitung “Glaube und Heimat” und Leiter der Pressestelle der Thüringer Landeskirche war, hat damals einen sehr heftigen Briefwechsel mit dem Staatssekretariat für Kirchenfragen geführt. Eine spannungsreiche Zeit, in der sich Pfarrer Brüsewitz in Zeitz selbst verbrannt hatte und Wolf Biermann ausgebürgert wurde.

Sie erwähnten, dass nach Ihrem ersten Vortrag die Behörden begannen, sich für Sie zu interessieren. Wie machte sich das konkret bemerkbar?

Da setzen dann Schwierigkeiten in der Schule ein. Die Zulassung zur EOS wurde unter fragwürdigen und fadenscheinigen Gründen plötzlich zurückgezogen. Und innerhalb der Jungen Gemeinde gab es einen jungen Mann, der offensichtlich auf mich angesetzt war. Er begann mir in jener Zeit auf die Nerven zu gehen, weil er immer wieder den Vorschlag machte, ich möge doch jetzt als nächstes Thema Wolf Biermann behandeln. Das war meiner Meinung nach eine gezielte Provokation, um die Sache Stasi-seitig vielleicht noch politisch zuzuspitzen - möglicherweise. Jedenfalls habe ich keinen Einführungsabend in das Liedschaffen Wolf Biermanns gehalten. Nichts gegen Biermann, aber ich hatte wirklich andere Interessen.

Wie war ansonsten die Resonanz auf diesen ersten Stockhausen-Vortrag?

Das war damals ein guter Kreis. Etwa 100 Zuhörer. Ich habe den Vortrag mit „Telemusik“ beendet. Es gibt einen sehr schönen Brief von Stockhausen, der auf den von mir geschilderten Abend Bezug nimmt und in dem er von der hohen Verantwortung spricht, die man als Fürsprecher dieser Musik trägt. Und in dem er sich auch über seine Rolle in der gegenwärtigen globalen Kultur äußert.

Dass man unter dem Dach der Kirche dann in der Folge doch mit gewisser Regelmäßigkeit Stockhausen spielte, nahm man staatlicherseits wohl oder übel duldend hin?

Naja, die staatliche Gewalt hat sich ja nicht direkt eingemischt in das, was in Kirchen stattfand. Politisch waren wir nicht wirklich gefährlich. Es zeigte sich aber, dass offizielle Gremien wie Komponistenverband und Musikhochschule, die ideologisch stark durchsetzt waren, fuchsteufelswild geworden sind, weil wir ständig Sachen machten, die eigentlich nicht sein sollten oder durften.

... also auch nicht mit dem jeweiligen offiziellen Gremium abgestimmt waren ...

... ja – die fanden einfach statt, und hatten, was noch viel schlimmer war, auch Resonanz. Aber das war damals überhaupt keine Kunst, denn wenn so etwas bekannt wurde – per Mund-zu-Mund-Propaganda -, dann war die Kirche immer voll. Da ist für unsere Arbeit die Jakobskirche in Weimar als Veranstaltungsort enorm wichtig gewesen, auch durch den dortigen Pfarrer. Ab 1978 wirkte dort Erich Kranz, der eine wichtige Rolle im politischen Widerstand spielte und in den 50-er Jahren sechs Jahre in Bautzen gesessen hatte. Nicht nur aus künstlerischen Gründen, sondern auch als freiheitlich denkender Mensch hat er uns gern die Kirche offen gehalten.

Ein weiterer Glücksumstand war, dass ich 1980 in der Kirche von Denstedt eine von Liszt gespielte Orgel wiederentdeckt hatte und dort walten und schalten konnte, wie ich wollte. Es gab keinen offiziellen Kantor.

Irgendwann haben Sie sich dann auf eine abenteuerliche Reise zu Ihrem Idol in Kürten gemacht ...

Der erste Besuch war 1976, im Dezember. Ich war auf dem Weg in die Schweiz, wo ich den bereits erwähnten Kompositionspreis gewonnen hatte.

Bevor ich darauf näher eingehe, noch einige Bemerkungen zur Vorgeschichte. Nachdem ich seit 1970 mit Stockhausen korrespondierte, kam im Jahr darauf als weitere wichtige Bezugsperson Henry Pousseur hinzu. Auch von ihm erhielt ich großartige Briefe. Und ein glücklicher Zufall wollte es, das mein Vater 1971 zu einem Vortrag nach Brüssel reisen und auch mit ihm Kontakt aufnehmen konnte. Pousseur hat ihn mit Schallplatten und Büchern schwer bepackt. Und meine Eltern – meine Mutter durfte mitfahren – haben das gut im Flughafen Berlin-Schönefeld ins Land gebracht. Als sie dort verspätet ankamen, war kein Zoll da – und sie haben gemacht, dass sie schnell weiterkommen.

Als ich gelesen hatte, dass bei Stockhausen jemand aus Ungarn arbeitet, versuchte ich natürlich, Peter Eötvös zu treffen. Also habe ich mit ihm Kontakt aufgenommen, bin 1972 nach Budapest gefahren und habe mich mit ihm getroffen. Er hatte gerade eine Aufführung der Komposition JETZT, MISS! nach Beckett im KISZ-Kulturhaus des kommunistischen Jugendverbandes. Eötvös verdanke ich viele Berichte “aus erster Hand”. Ich erinnere mich an eine nächtliche Fahrt um den Plattensee, wo wir stundenlang diskutierten. Und über ihn kam dann wieder der Kontakt zu jemandem in der DDR zustande – zu Paul-Heinz Dittrich, mit dem er sich in Ostberlin traf. Ich bin dann unmittelbar danach zu ihm nach Zeuthen gefahren, wo er gegenüber Paul Dessau wohnte. Ich bin leider nicht zu ihm hinübergegangen, obwohl Dittrich es vorgeschlagen hatte. Für mich war der damals irgendwie zu rot. Ich wusste damals nicht, dass er eigentlich ein Behüter der DDR-Avantgarde war. Das war schlicht Unkenntnis meinerseits. 1976 gelang es mir, Eötvös und Dittrich als Referenten zum Ferienkurs für zeitgenössische Musik in Gera zu vermitteln, was ohne die tolerante Einstellung des Musikwissenschaftlers Dr. Eberhard Kneipel nicht möglich gewesen wäre.

Und Dittrich war es eben, der von Boswil erzählte und mich auf den Kompositionswettbewerb aufmerksam machte. Ich habe dann selbst zum Präsidenten der Stiftung Willy Hans Rösch den Kontakt hergestellt, und am nächstmöglichen Wettbewerb teilgenommen.

Dittrich erzählte mir bei unserer ersten Begegnung, dass Wilfried Jentzsch über Boswil ausgebüxt war. Die Boswiler, die sich intensiv um Ost-West-Kontakte bemühten, hatten gewiss etwas Angst, dass ich als 20-Jähriger vielleicht auch sage: „Was soll ich eigentlich noch in der DDR? Es ist doch schön und viel freier hier.“ Aber ich war durch mein protestantisches Elternhaus so geprägt, dass ich das nie gemacht hätte. Ich wollte da für diese Musik eintreten, wo mich der liebe Gott hingestellt hat.

Sie entdeckten bei dieser Reise fast die gesamte westeuropäische Elektroakustik-Szene. Wie war das möglich?

Boswil war auch insofern wichtig, weil ich über viele Freunde und Kontakte Geld bekam, um einen ersten Synthesizer der Firma EMS London zu besorgen, mit so einem Steckfeld. Analog natürlich. Das war später das Instrument, über das Hans Tutschku zur elektronischen Musik gekommen ist. Eine ganz wunderbare Kette von scheinbaren Zufällen, bei der ein Glied ins andere gegriffen hat. Dadurch standen uns auf einmal die “Produktionsmittel” für elektroakustische Experimente zur Verfügung. Die musste ich zunächst über die Grenze in die DDR bringen. Von Stockhausen hatte ich ja bereits auf der Hinreise einen riesigen Plastiksack voller Partituren, Bücher und Schallplatten bekommen. Ich habe all das durch einen dänischen Freund ins Land schmuggeln lassen, der in Kopenhagen eine Konzertagentur für Popmusik mit einer Aussenstelle in “Berlin – Hauptstadt der DDR” hatte. Ein abenteuerlicher Grenzgänger zwischen den Systemen, der 1984 in Ostberlin verstarb – und der, wie ich erst 2010 erfuhr, “inoffizieller Mitarbeiter” der Staatssicherheit war.

Sie erwähnten Ihren ersten Besuch bei Stockhausen ...

Der erste Besuch bei Stockhausen war am 19. Dezember 1976. Gleich nach der Begrüßung hat er in seiner herzlichen Großzügigkeit zu mir gesagt: “Setz’ Dich hin und schreib alles auf, was Du von mir brauchst!” Da war ich dann recht verlegen und völlig hilflos. Er sagte daraufhin: „Gut, dann gehen wir hier an die Regale, und ich zeig’ Dir die Titel, und was Du noch nicht hast, kannst Du mitnehmen.“ Auf einen Schlag erhielt ich die ganzen Texte und Partituren und Schallplatten. Ich bin nie wieder so beschenkt worden!

Nachdem ich mit meinem Cousin aus Frankfurt/Main am 18. Dezember mit dem Zug in Köln angekommen war, gingen wir gleich – das hatte Eötvös vermittelt – ins Studio für Elektronische Musik des WDR und erlebten eine dreistündige Führung, die Mesias Maiguashca für die Rheinische Musikschule hielt. Mit ihm sind wir dann nach Oeldorf gefahren, wo er mit Eötvös und Chen Pi-hsien wohnte. Und von dort habe ich Stockhausen angerufen und mit ihm eineinhalb Stunden telefoniert. Er hat mich ein Loch in den Bauch gefragt und wollte genau wissen, wie die Situation in der DDR ist. Er sagte, ich dürfe auf keinen Fall zurückfahren, man müsse da bleiben, wo man seine Fähigkeiten am besten entwickeln kann, und es wäre also total töricht, jetzt diese Chance nicht zu nutzen. Ich solle unbedingt im Westen bleiben. Jahre später “erinnerte” er sich daran, dass ich damals nicht zurückreisen wollte und er mich schließlich überzeugt habe, es doch zu tun …

Und am nächsten Morgen hat mich Chen Pi-hsien dann nach Kürten gefahren. Da stand ich dann erstmals vor dem Haus. Da ist so eine Klangschale. Nachdem ich sie zum Klingen gebracht hatte, öffnete Stockhausen und hielt in seinen Händen Christbaumschmuck. Das passte ja nun gar nicht so zum Bild eines Avantgardekomponisten. Aber er war ja auch ein herzlicher Familienmensch. Dann hat er das natürlich alles weggelegt, nahm sich dann so zwei, zweieinhalb Stunden Zeit, zeigte mir, wo er komponiert, und führte mich durch das sehr schöne Haus. Dann gab er mir einen Umschlag, auf dem stand „Frohe Weihnacht, lieber Michael, Dein Stockhausen“. Darin befanden sich 400 DM. Das Geld war für eine Reise zu seinen nächsten Konzerten in Brüssel und Liège bestimmt. Da war ich erst einmal erschrocken – ich war ja noch nicht einmal in der Schweiz an meinem offiziellen Zielort angekommen. Und nun die Aussicht auf eine weitere Reise. Ich hatte natürlich schon von rüstigen Rentnern gehört, dass es in der Bundesrepublik möglich war, den DDR-Pass gegen einen der BRD zu tauschen; und da habe ich mich dann auch gleich kundig gemacht.

Das blieb nicht die einzige weitreichende Begegnung auf Ihrer Reise in die Schweiz ...

Ich habe in der Schweiz versucht, viele Kontakte herzustellen. Einer davon war Klaus Huber. Ich bin dann auch mehrfach zu ihm nach Freiburg im Breisgau gefahren. Da hatte ich schon meinen Pass getauscht. Bei Klaus Huber nahm ich an Kompositionsworkshops teil. Auch Ernst Helmuth Flammer habe ich dort kennengelernt, der mich in seiner Wohnung aufnahm. In München besuchte ich Peter Michael Hamel. Sein Buch „Durch Musik zum Selbst“ war damals ein Bestseller. Das passte genau in die damalige Zeit. Und es ist ja auch ein ganz verdienstvolles Werk, das Brücken zu anderen Kulturen eröffnet. Er hat mich natürlich auch mit seiner Gruppe „Between“ interessiert, die improvisierte Musik mit Live-Elektronik gemacht hat. Dann existierte in der Schweiz noch das Ensemble Neue Horizonte Bern mit dem umtriebigen Komponisten Urs Peter Schneider, bei dem ich auch gewesen bin. Ich habe die Zeit genutzt, um möglichst viele musikalische Eindrücke zu sammeln und ein Kontaktnetz aufzubauen.

Ich habe dann Pousseur geschrieben, dass ich  demnächst in Belgien zu Stockhausen-Konzerten sein werde. Er hat gleich geantwortet, ich könnte bei ihm im Conservatoire in Liège wohnen, dessen Direktor er damals war.

Wie verlief diese Erfahrung?

In Brüssel - beim Festival „Reconnaissance des Musiques Modernes“ - habe ich dann auch viele andere Komponisten gesehen, wie z. B. Luis de Pablo. Stockhausen hat „Mixtur“ dirigiert. Es gab noch „Mantra“. Und dann in Liège spielte man „Hymnen“ mit Solisten (Suzee Stephens, Klarinette, Aloys Kontarsky, Klavier, und Christoph Caskel, Schlagzeug). Also das war ganz toll, diese intensive Probenarbeit! Ich habe damals bei Pousseur gewohnt und war tagsüber bei Stockhausen. Das war nicht ganz einfach, da zwischen beiden Spannungen bestanden. Aber mich zog es immer etwas stärker zu Stockhausen hin, muss ich ehrlich sagen. Ich habe dann aber abends oft auch sehr lange mit Pousseur zusammengesessen, der ein wunderbarer Mensch war. Er hatte damals gerade so einen leichten Linksruck hinter sich. Er hat mir dann ein neues Werk von Frederik Rzewski vorgestellt: den Klavierzyklus "The People United Will Never Be Defeated!", 36 Variationen über das chilenische Revolutionslied "¡El pueblo unido, jamás será vencido!" Sie verbinden auf einzigartige Weise politische und künstlerische Avantgarde, utopische Hoffnung und virtuose Brillanz, traditionelle Form und Techniken der Neuen Musik. Vielleicht hat Rzewski damit die "Diabelli-Variationen" des 20. Jahrhunderts geschrieben.

Da war dann plötzlich inhaltlich eine Brücke zu Hanns Eisler da. Und das war auch sehr interessant.

Dann war mein Ziel, auf der Rückfahrt nach Boswil noch das frisch eröffnete Ircam anzuschauen. Aber das war am Wochenende leider geschlossen. In Paris war ich bei Emmanuel Nunes zu Gast, mit dem mich Eötvös in Kontakt gebracht hatte.

Bereits Anfang der 70er Jahre hatte ich – via Pousseur – in Leipzig Kontakt mit Dr. Hans Grüß, der sich schon damals sehr kompetent mit Fragen Neuer Musik – Aleatorik etc. – befasste. Vielleicht auch inspiriert durch ihn wollte ich Musikwissenschaft studieren. Das wurde mir dann aber verwehrt.

Mit welcher Begründung?

Ich war in Leipzig zur Aufnahmeprüfung. Diese war überhaupt kein Problem, aber die Ideologisierung des Fachs mitunter paradox. Ich sollte nachweisen, dass mit der Rhythmik der Johannespassion die frühbürgerliche Revolution vorbereitet wurde. Und da habe ich gesagt: „Mit Verlaub, diesen Ansatzpunkt halte ich für unmöglich.“ In der Begründung der Ablehnung, die mein Theorielehrer hier in Weimar – Herbert Kirmße – heimlich aus den internen Papieren abschrieb, stand dann „fachlich geeignet, aber nicht akzeptabel, wegen Herkunft und Berufs des Vaters …” Da kam gewiss auch indirekt die Retourkutsche wegen “Stockhausen und Co” gefahren.

Noch einmal zurück zu Ihrer Reise nach Boswil. Sie kamen mit all diesen Kontakten zurück in die DDR. Konnten Sie die dann weiter nutzen?

Es gab eine rege Korrespondenz. Ich schrieb immer Eilbriefe, weil das nicht viel kostete und die Beförderung beschleunigte. Ab und zu ist sicher einmal etwas weggekommen. Aber an sich lief die Korrespondenz regelmäßig. Es ist nicht so, dass die immer abgefangen worden wäre. Ich habe kürzlich bei meiner zweiten Suchanfrage bei der Stasiunterlagenbehörde einige Dinge gefunden, die abgefangen wurden: da tauchten auch plötzlich irgendwelche Streifbandsendungen von „Glaube und Heimat“ auf. So hatte ich voller Stolz, dass es mir gelungen war, in der Kirchenzeitung Uraufführungen Stockhausens zu melden, die entsprechenden Ausgaben per Streifband an ihn geschickt. Die wurden aussortiert. Wieso etwas abgefangen wurde, das immerhin in der DDR gedruckt war, ist mir noch heute ein Rätsel.

Es liegt ja überhaupt nahe, zu mutmaßen, dass die Behörden irgendwann eher zu einer Politik des laisser faire übergegangen sind, in dem Wissen, dass man mit dieser Musik keine Massen erreichen und keine Revolution auslösen würde ...

Man kam sich ja immer irgendwie wichtig vor, wenn man da so quer lag, aber das ist meiner Ansicht nach ein Irrtum. Unser eigentliches Anliegen wurde oft sogar mit einem gewissen Desinteresse verfolgt.

Sicher ist es auch so: hier vor Ort waren einige Scharfmacher im Verband und in der Hochschule, da gab es echte Spannungen, weil ich auch sehr frech war und aufmüpfig. Zum Beispiel: 1970 wurden im Kulturbundclub Erich Wendt neue Werke aus Polen vorgestellt, unter anderem die Sonata per Violoncello e Orchestera von Penderecki. Da stellte sich der Vorsitzende des Komponistenverbandes Prof. Dr. Erich Schmidt hin und sagt: „Ist irgendjemand im Saal, der das noch für Musik hält?“ Suggestivfrage. Und da bin ich aufgestanden und habe gesagt: „Ich halte das durchaus für gute Musik.“ Von dem Tag an haben mich alle gekannt. Dann fand eine “Diskussion” statt. Das war so typisch DDR. Da fingen dann die Herren Dozenten, - also die “Experten” - an, über Avantgardemusik zu erzählen und was es da alles Schlimmes gibt. Und kamen bald zum Inbegriff des Schlimmen, zu Stockhausen, “der macht ja auch solche Sachen.“ Da sagte ich: „Jetzt wollen wir aber mal konkret werden – welche Kompositionen meinen bzw. kennen Sie? Worauf bezieht sich Ihre Aussage?“ Ich habe die dann richtig vorgeführt und gesagt: „Sie kennen ja gar nichts von Stockhausen – sie können ja nicht ein Stück nennen. Außer „Gesang der Jünglinge“, den sie wahrscheinlich auch noch nie gehört haben. So können wir doch nicht diskutieren.“ Also ich war richtig bösartig frech. Und das hat man mir lange Zeit nachgetragen.

Sie haben dann auch recht früh Ihr Ensemble für intuitive Musik gegründet. Wie kam das?

Wir haben uns eigentlich schon 1977 zusammengetan. Inspiriert und basierend auf den Erfahrungen meiner Boswil-Reise. Da nannten wir uns Gruppe oder Ensemble für Neue Musik Thüringen. Einer der ersten Komponisten, der für uns schrieb, war Helmut Zapf, den ich auf der Kirchenmusikschule für Neue Musik interessiert hatte und den ich zum seit 1974 existierenden Geraer Ferienkurs mitnahm, wo er von Paul-Heinz Dittrich gefördert wurde.

Als EFIM sich dann langsam vorgetastet hatte, spielten wir ab 1980/81 diese vielen Stockhausenprogramme. 1982 war das erste Konzert in einem offiziellen Konzertsaal im Rahmen des “Studio Neue Musik” der Musikhochschule im Studiotheater des Dredner Kulturpalastes. Wahnsinn, wie viele Leute da kamen! Die Dresdner waren richtig heiß auf Stockhausen.

In Wutike kamen sie dann auch mit Lejaren Hiller in Kontakt?

Durch Roswitha Trexler, die bei June in Buffalo 1979 gesungen, sich mit ihm angefreundet und ihn dann auf ihrem Wutiker Steinbergstadl eingeladen hatte. Er ist ja auch gekommen und aufgetreten mit einem total blödsinnigen Gag-Stück, das wir mit Roswitha zusammen aufgeführt haben, so eine “lustige” Paraphrase, bei der er auf Deutsch dazu rezitiert hat. Das war sein Beitrag zu einem Konzert, bei dem EFIM ein neues Werk von Zapf sowie Stockhausen gespielt hat, ich habe außerdem mit Roswitha Trexler „Tierkreis“ aufgeführt. Teile daraus sind in einem Film-Porträt zu sehen, dass Gitta Nickel für den WDR produziert hatte.






Presse:


- „Es ist fünf nach zwölf“ Hup-Konzert gegen Neo-Nazis / Thüringer Landeszeitung, 13. April 2002

- „Sockel regt Fantasie an, Kromsdorf stets für Überraschungen gut“ ( von Christiane Weber) / TLZ, 5. Juni 2001

- „JENA KOCHT!“ (Als König von THÜRINGEN mit Kochorchester) / Thüringer Allgemeine, 6. Juni 2000

- „Der letze Schlömer: Heitere Badeballade“ (von Frank Quilitzsch) / TLZ, 26. Juni 1996

- „Vom Wiehern des Pferdes umweht, Joachim Schlömers Tanzstück „Geschenk am Fuß“ beim Weimarer Kunstfest“ / Rhein-Pfalz, 27. Juni 1996

- „Knallfrösche?“ / Thüringische Landeszeitung, Dienstag, 3. Februar 1976

- „Kompositionen von Studenten“ / DAS VOLK, 12. Februar 1976